Lernen heißt, sich immer wieder neu zu begegnen

Eine der größten kognitiven Illusionen unserer Zeit ist die Vorstellung, wir seien die Rollen, die wir in unserem Leben einnehmen. „Ich bin Managerin. Ich bin Techniker. Ich bin Mutter. Ich bin so.“ Diese Form der Selbstdefinition wirkt wie eine Grenze – eine innere Barriere, die uns einredet: So bin ich eben. Und so bleibe ich. Das ist der Kern eines Fixed Mindset – die Überzeugung, dass unsere Fähigkeiten und unser Wesen im Grunde festgelegt sind.

Aber das ist ein Irrtum.

Unsere allererste Identifikation geschieht nicht bewusst: Bei der Geburt wird festgestellt – ist das Kind gesund oder krank? Ist es männlich oder weiblich? Und je nachdem verhalten sich die Menschen um uns herum unterschiedlich. Es beginnt eine Phase intensiver Prägung – durch Nachahmung, durch Sprache, durch Reaktionen. Und so entsteht unser Ego – ein Konstrukt aus Gedanken, Gefühlen, Werten, Haltungen, Glaubenssätzen. Es fühlt sich echt an, weil es sich fühlen lässt. Aber wir sind nicht dieses Ego – wir haben ein Ego. Und dieses Ego ist formbar. Es kann sich weiterentwickeln. Genau hier beginnt der Raum für Growth Mindset.

Wenn wir uns entwickeln wollen, müssen wir zuerst verstehen, wie wir lernen. Und vor allem: Wie wir mit Frustration umgehen, wenn Lernen nicht sofort gelingt. Stell dir ein zweijähriges Kind vor, das versucht, laufen zu lernen – und bei den ersten Stürzen aufgeben würde, weil es frustriert ist. Es würde niemals gehen lernen. Lernen bedeutet, immer wieder mit schwierigen Emotionen konfrontiert zu sein – mit Zweifel, Angst, Scham oder innerem Widerstand. Und genau deshalb brauchen wir emotionale Fähigkeiten, um mit diesen Zuständen umzugehen.

Kinder lernen aber nicht allein. Sie haben Bezugspersonen, die an sie glauben. Die sie ermutigen. Die sagen: Du schaffst das! Diese Form der Unterstützung, des geteilten Lernens, ist in unserem Schulsystem – und noch mehr im Erwachsenenleben – oft verloren gegangen. Wir lernen nicht mehr miteinander. Wir glauben, Lernen sei ein individueller Kampf.

Stell dir eine Schulklasse vor, in der alle sagen: Wir schaffen die Matura – gemeinsam. Oder ein Team, das sich einer neuen Herausforderung stellt – etwa der Einführung eines neuen Tools – und statt heimlich zu zweifeln oder sich gegenseitig zu messen, entsteht ein Geist von: Wir helfen uns gegenseitig – bis es alle verstanden haben.

Lernen ist keine Einzelleistung – es ist ein kollektiver Prozess

Lernen funktioniert dann besonders gut, wenn wir in einer Umgebung sind, in der wir uns sicher fühlen, Fehler machen dürfen, Unterstützung erfahren und das Gefühl haben: Ich bin nicht allein. Genau das können wir in Teams, in Organisationen und in Lernräumen wieder kultivieren.

Denn eines ist sicher: Wir sind niemals „fertig“. Und das ist keine Schwäche – sondern unsere größte menschliche Stärke.